Um den Leipziger Stadtteil Grünau zu beschreiben, haben Politiker, Journalisten und DDR-Gegner schon viele Worte gefunden – meist unschöne. Bernd Puckelwaldt hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Bild zurechtzurücken. Ein Rundgang durch eine der größten Plattenbausiedlungen Ostdeutschlands.
TextCarolyn Wißing,
15. Dezember 2014
Da haben wir ja Glück gehabt!“ Bernd Puckelwaldt schaut den Wolken hinterher, die sich gerade an der Sonne
vorbeigeschoben haben. Wenn er Besuchern sein Grünau zeigt, dann soll es auch im schönsten Licht erstrahlen. Der
hochgewachsene 67-Jährige mit dem Rauschebart hat einen Großteil seines Lebens in der Großwohnsiedlung verbracht,
beruflich wie privat. Er kennt hier alle Wege, jede Platte und sogar die Baupläne dahinter. Als Bauleiter hat er
vor über 30 Jahren geholfen, den Stadtteil hochzuziehen. Seither ist Grünau auch sein Zuhause, in das er
Neugierige gerne einlädt. „Los geht’s.“ Er steigt auf sein Fahrrad und steuert den ersten Besichtigungspunkt an.
Schon auf dem Weg dorthin erzählt er mehr, als so mancher Leipziger über Grünau weiß.
Jedem seine Wohnung – so lautete 1971 die Parole des SED-Wohnungsbauprogramms, das jeden DDR-Bürger in die
eigenen vier Wände bringen sollte. In Leipzig gab es zu der Zeit akute Wohnungsnot. Viele Gründerzeithäuser waren
im Krieg verschont geblieben, deren Zustand aber war katastrophal. „Ich habe Wohnungen in der Leipziger
Innenstadt gesehen“, erinnert sich Puckelwaldt, „da ist bei Regen das Wasser an den Wänden hinuntergelaufen. Aber
von innen!“ Außerdem gab es kein warmes Wasser aus der Leitung, kein Badezimmer, oft nur ein Plumpsklo auf dem
Hof. Wer es in der Stube warm haben wollte, musste Kohlen für den Kachelofen aus dem Keller schleppen. Gerade an
den Industriestandorten Plagwitz und Lindenau fehlte es an bewohnbaren Wohnungen für die vielen Arbeitskräfte mit
ihren Familien. Die Lösung: Eine Großwohnsiedlung im Leipziger Westen gebaut aus industriell gefertigten
Plattenelementen. Wohnen nach Norm, ganz im Sinne der Einheitspartei.
Bernd Puckelwaldt hat sein Fahrrad im Schatten eines neungeschossigen Wohnhauses abgestellt und breitet seine
langen Arme aus. „Bevor das alles gebaut wurde, gab es hier nur Felder, eine Gartenkolonie und das Dorf Schönau“,
sagt er. Im Frühjahr 1976 erfolgte der erste Spatenstich für das Großprojekt Grünau. Zwei Jahre danach waren die
ersten 4.500 Wohnungen fertiggestellt und noch ein Jahr später wohnten bereits 16.000 Menschen in Grünau. Eben zu
dieser Zeit kam Bernd Puckelwaldt auf die Großbaustelle. Beim Hauptauftraggeber „Komplexer Wohnungsbau“ war er
zuständig für die Bauabnahmen von Wohnungen, Kindergärten, Sportplätzen. Beeindruckt sei er gewesen von dem
wahnsinnigen Tempo, in dem der Stadtteil hochgezogen wurde. „36.000 Wohnungen innerhalb von zehn Jahren. Das fand
ich aufregend“, erinnert sich Puckelwaldt. Noch immer muss er schmunzeln beim Gedanken an die vielen glücklichen
Kneipenbesitzer oder Schuldirektoren, denen er einen nagelneuen und hochmodernen Arbeitsplatz übergeben durfte.
Wohnkomplexe oder kurz WK, so nannte man Siedlungseinheiten im SED-Deutsch. Aus sieben davon besteht Grünau. Heiß
begehrt waren sie unter den Leipzigern. Wer eine Wohnung zugeteilt bekam, konnte sich über den Komfort des
Neubaus freuen. „Der Großteil der Bewohner fühlte sich in den Anfangsjahren wohl in Grünau, ohne
Einschränkungen“, erklärt Professor Sigrun Kabisch. Die Stadtsoziologin vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für
Umweltforschung begleitet die Entwicklung der Siedlung in einer fortlaufenden Intervallstudie und befragte die
Bewohner Grünaus seit 1979 inzwischen neun Mal. Jedoch brachte die Mangelwirtschaft zur DDR-Zeit den Bauboom in
Grünau immer wieder ins Stocken. Baumaterialien waren nicht immer so vorhanden, wie sie gerade auf der Baustelle
gebraucht wurden. Um die Vorgaben aus dem Politbüro dennoch zu erfüllen, wurden in den 1980ern die letzten
Wohnkomplexe höher und enger gebaut. Gemeindezentren, Einkaufsmöglichkeiten und sogar Straßen mussten warten.
Bei Regen füllten sich die Mulden zwischen den Großbaustellen mit Wasser. Gummistiefel gehörten zur
Grundausstattung in „Schlammhausen“, wie Grünau getauft wurde. Das alles habe allmählich die Wohnzufriedenheit
der Grünauer gedrückt, sagt Kabisch.
Und dann kam die Wende - auch für Grünau
Bernd Puckelwaldt hat im Stadtteilladen an einem der runden Tische mit Blick auf das Allee-Center Platz genommen
und blättert in alten Plänen und Broschüren über Grünau. Ende der 1980er Jahre lebten in den Wohnkomplexen rund
85.000 Menschen. „Tja und dann kam die Wende“. Bernd Puckelwaldt seufzt. Wer wollte und es sich leisten konnte,
zog weg aus Grünau nach Westdeutschland, in sanierte Gründerzeithäuser im Zentrum oder in Eigenheime am
Stadtrand. „Klar, dass zum Beispiel ein Universitätsprofessor sich nach einer großzügigeren Wohnung umschaut oder
sein eigenes Häuschen baut, wenn plötzlich die Möglichkeiten dafür da sind“, sagt Puckelwaldt. Mitte der 1990er
Jahre waren bereits mehr als 10.000 Grünauer abgewandert.
Mit der Wende wehte ein schlechter Ruf von außen nach Grünau, erinnert sich Puckelwaldt. „Plötzlich hieß es nicht
mehr Neubausiedlung, sondern abwertend Plattenbau.“ Er zieht aus dem Wust an Unterlagen auf dem Tisch mehrere
Zeitungsberichte hervor, in denen er einige Passagen rot markiert hat. Mit aufgeregter Stimme und weit
aufgerissenen Augen liest er vor: „Grünau, der gar nicht grüne Monstervorort“, „Sammelbecken von Arbeitslosen,
Wohngeldempfängern und Alten“. Es fallen Wörter wie „Ghetto“, „Moloch“ und „sozialer Brennpunkt“. Formulierungen
vornehmlich von West-Journalisten, die Bernd Puckelwaldt über sein Grünau so nicht stehen lassen kann. Wieder
schwingt er sich auf sein Rad, um das Gegenteil zu beweisen. Er hält dagegen mit dem vielen Grün ringsherum, das
der Siedlung ihren Namen gab. Er schwärmt von tollen Wohnungen im sechzehnten Stock mit einem Ausblick bis zum
Völkerschlachtdenkmal. Und er singt Lobeshymnen auf die Bewohner des Stadtteils, die sich hier wohlfühlen. Grünau
sei kein Köln Chorweiler oder Hamburg Steilshoop.
Wenn ich mit ausländischen Kollegen einen Spaziergang durch Grünau mache, dann kommt oft die Frage: Wo ist denn
das Problem? Wo sind denn die Graffiti, die Randale, die Verwahrlosung?
Prof. Dr. Sigrun Kabisch, Stadtsoziologin am Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
Auch Sigrun Kabisch kennt die Vorurteile, die es gegenüber Großwohnsiedlungen wie Grünau gibt. Von monotonen,
grauen Betonwüsten sei immer wieder die Rede. „Plattenbauten sind nun einmal ein bauliches Symbol der DDR und
müssen dann immer herhalten als Zeugnis, um diese Zeit mit möglichst negativen Attributen zu belegen.“ Sie kann
allerdings mit wissenschaftlichen Argumenten gegenhalten. Aus der Intervallstudie geht hervor, dass Grünau
einesfalls ein sozialer Brennpunkt ist. Die Einkommen sind zwar leicht unterdurchschnittlich, doch liegen die
Bewohner in puncto Bildungsabschlüssen oder Arbeitslosenquote mit dem Rest Leipzigs gleichauf. Auch die
Kriminalitätsrate ist nicht höher, wie sich aus den Zahlen vom Amt für Statistik der Stadt Leipzig lesen lässt.
Der starke Bevölkerungsschwund habe nicht zu einer sozialen Entmischung und Ghettoisierung geführt, so Kabisch.
„Grünau ist sehr durchmischt und so sollte es auch sein. Mit fast 45.000 Einwohnern hat Grünau die Größe einer
guten Mittelstadt. Und jede Mittelstadt hat ihre besseren und schlechteren Gebiete.“
Trotz zufriedener Bewohner und stabiler sozialer Verhältnisse, ging die Talfahrt für den Stadtteil weiter. Immer
mehr Grünauer zogen weg und hinterließen leere Plattenbauwohnungen. Die Wohnungsbaugenossenschaften versuchten
den DDR-Charme wegzusanieren. Freizeiteinrichtungen, ein Shopping-Center und ein Schwimmbad wurden gebaut. Das
konnte zwar die Abwanderung der Grünauer verlangsamen, jedoch vorerst keine neuen Bewohner in die Platte locken.
In einigen Wohnkomplexen stand 2004 ein Viertel der Wohnungen leer. Grünau wurde zum Problemfall der
Stadtentwicklung und seine Zukunft zum Politikum. Einigen Entscheidungsträgern sei der Stadtteil ein Dorn im
Auge gewesen. Bernd Puckelwaldt erinnert sich, wie immer mal wieder der Satz zu hören war: „Das gehört eh alles
wechgerissen.“ Um die leerstehenden Wohnungen vom Markt zu nehmen, entschloss sich die Stadt schließlich zur
radikalen Lösung und nannte sie beschönigend Rückbau.
„Rückbau! Allein bei dem Wort bekomme ich schon rote Ohrläppchen.“ Bernd Puckelwaldt schüttelt den Kopf. Was die
Stadt und andere Akteure immer gern als Rückbau bezeichnet haben, sei in Grünau nur an zwei Standorten passiert.
Dort hat man bei einigen Sechs-Geschossern die oberen Etagen abgetragen und daraus Drei-Geschosser mit hübschen
Dachterrassen gemacht. Alle anderen Maßnahmen seien knallharter Abriss gewesen. „Ratzefatz, Bude weg und dann
eine Tüte Grassamen drüber. So lief das hier ab. Und zwar in tausender Größenordnung“, sagt Puckelwaldt. Rund
7.000 Wohnungen sind Anfang der 2000er abgerissen worden. Von den einstmals 19 Hochhäusern mit 16 Etagen stehen
heute nur noch fünf. Er hat vor einer mit Disteln bewachsenen Wiese Halt gemacht und rümpft beim Anblick die
Nase. Auch hier haben Bagger und Abrissbirne vor wenigen Jahren ein Denkmal des sozialistischen Wohnungsbaus
ausgelöscht. Bernd Puckelwaldt erinnert sich, dass damals mit dem Slogan geworben wurde: „Mehr Qualität durch
weniger Häuser.“ Wo er zwischen dem wild gewachsenen Grün das Mehr an Qualität finden soll, ist ihm noch nicht
ganz klar. „Dann soll man doch bitteschön auch etwas Sinnvolles mit solchen Freiflächen machen, wie der
Bürgergarten im WK 8.“
Stabilisierung und vielleicht sogar mehr
Möglicherweise hat Grünau aber die Kehrtwende geschafft. Die Einwohnerzahlen stabilisieren sich. In manchen
Wohnkomplexen gibt es in den letzten zwei Jahren sogar etwas mehr Zu- als Wegzüge. Oft sind es junge Familien,
die sich für Grünau entscheiden. Vergleichsweise günstige Kaltmieten von maximal 4,50 Euro pro Quadratmeter, aber
auch die kurzen Schulwege und grünen Innenhöfe sind ausschlaggebende Kriterien für junge Eltern. Seit Mitte der
2000er beobachtet Sigrun Kabisch außerdem das Phänomen der sogenannten Rückkehrer. „Leute, die als Kinder in
Grünau gelebt haben, aber dann aus unterschiedlichen Gründen weggezogen sind, kehren jetzt wieder zurück in den
Stadtteil“, erklärt Kabisch. Die Intervallstudie zeigt, dass es eine ganz bewusste Entscheidung war, mit der die
Rückkehrer glücklich sind. 76 Prozent von ihnen würden einem guten Freund empfehlen, auch nach Grünau zu ziehen.
„Soziale Netzwerke veranlassen Menschen, nach Grünau zurückzukehren“, sagt Sigrun Kabisch.
Bernd Puckelwaldt freut sich über den Zuzug von Familien. „Es ist schön zu sehen, dass wieder mehr junges Leben
nach Grünau kommt und die Schulen, die ich damals gebaut habe, wieder gebraucht werden.“ Sigrun Kabisch hält
diese Entwicklung eher für dringend nötig. Die meisten Bewohner sind direkt mit Fertigstellung der
Plattenbauwohnungen vor 30 Jahren nach Grünau gekommen und dann zusammen mit dem Stadtteil gealtert. Der Anteil
der 55- bis 70-Jährigen ist im Vergleich zu Gesamt-Leipzig überdurchschnittlich hoch. Damit Grünau also nicht
überaltert oder gar ausstirbt, braucht es mehr junge Leute, die den Weg in die Platte finden – oder zumindest in
ihre Nähe.
Es wird nämlich wieder neu gebaut in Grünau. Ausgerechnet an den Stellen, wo vor nicht einmal zehn Jahren Häuser
abgerissen wurden, entstehen neue Kastenbauten allerdings nicht aus Platte. Im Wohnkomplex 8 am westlichsten Rand
von Grünau ziehen Baukräne drei Mehrgeschosser in die Höhe. Ende Oktober wurde bereits Richtfest gefeiert. Die
bauende Genossenschaft wirbt mit Fußbodenheizung, Parkett und mit einem Balkonausblick
auf den Kulkwitzer See. Anfragen zukünftiger Mieter gebe es bereits genug, trotz einer Kaltmiete von acht
Euro pro Quadratmeter. Das ist fast doppelt so viel wie der Grünauer im Durchschnitt zahlt.
Bevor Bernd Puckelwaldt sich verabschiedet, hat er noch eine letzte frohe Botschaft zu verkünden. Er hält eine
aktuelle Ausgabe der Leipziger Volkszeitung hoch, tippt mit dem Zeigefinger energisch auf das Papier und strahlt
über das ganze Gesicht. „Grünau geht durch die Decke!“ lautet die Überschrift des Artikels, über den er sich so
freut. Nur ein paar Straßen vom Neubau am Kulkwitzer See entfernt sollen 2017 die Bauarbeiten an einem 42 Meter
hohen Wohnturm beginnen. Geplant seien 60 Zwei-Raum-Wohnungen, so steht es in der Zeitung. Bernd Puckelwaldt will
unbedingt versuchen, eine davon zu ergattern. In Gedanken steht er bereits am Fenster der Wohnung im vierzehnten
Stock. „Das wär doch herrlich. Dann könnte ich jeden Tag über mein schönes Grünau schauen.“
Zur Recherche
Bei der Suche nach Protagonisten, die uns ihr Grünau zeigen würden, gab uns Sigrun Kabisch einen entscheidenden
Hinweis. „Rufen Sie doch mal den Herrn Puckelwaldt an.“ Seine Geschichten würden Bücher füllen, sagte sie uns.
Ein Anruf und wenige Tage später rückten wir mit Kameras und Aufnahmegeräten bewaffnet auf unseren Fahrrädern im
Wohnkomplex 1 an. Bernd Puckelwaldt erwartete uns schon. Im Zickzack fuhr er mit uns durch alle Wohnkomplexe.
Unsere Technik immer am Anschlag, denn Bernd Puckelwaldt feuerte eine Geschichte nach der anderen über sein
geliebtes Grünau ab. Erst am späten Abend beendete die einbrechende Dunkelheit unsere Tour. „Och schade, ich
hätte Ihnen gern noch so viel mehr gezeigt“, sagte er. Und wir hätten noch ewig zuhören können.
Wer auch immer einmal Lust verspürt, gemeinsam mit einem echten Grünauer Urgestein das wahre Gesicht der
Großwohnsiedlung zu erkunden: Bernd Puckelwaldt freut sich auf einen Anruf.
Quellen:
Kahl, Alice (2000): 25 Jahre Großsiedlung Grünau - Soziales Portrait 2000. Forschungsbericht. Leipzig:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung.
Kabisch, Sigrun / Großmann, Katrin (2010): Grünau 2009. Einwohnerbefragung im Rahmen der Intervallstudie
„Wohnen und Leben in Leipzig-Grünau“. Ergebnisbericht. Leipzig: Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung.