Zweimal Softeis gefrostet. Vanille-Schoko bitte!“ Hier im Eiscafé am Stünzer Park wird die braun-weiß gestreifte
Eiscreme noch aus alten DDR-Maschinen gezapft. Und die Leute stehen auch an diesem Sonntag dafür Schlange. Jule
Klein greift über die Ladentheke und fühlt sich wieder wie damals, als sie regelmäßig mit ihren Großeltern
hierher kam. Mit dem kleinen weißen Plastiklöffel schabt sie dünne Streifen aus dem Eis während sie in Richtung
Kleingartenanlage schlendert.
Jule deutet mit der Hand in die Umgebung. Genau hier sei sie vor zwei Jahren mit ihrem Freund Johannes
zwischen den Gartensparten entlang spaziert. Es war Sommer, die Sonne knallte. „Beim Geruch von Dachpappe und
leicht fauligem Obst hat sich bei mir so eine Kindheitserinnerung aktiviert“, erinnert sich Jule. Der Blick auf
die Karte zeigte dann, die Wohnung ihrer Großeltern ist ganz in der Nähe. „Das war so ein zentraler Wendepunkt.
Mich verbindet etwas mit dem Leipziger Osten“, erzählt sie. Danach war klar, Jule und Johannes ziehen hierher.
Bis dahin stand nur fest, dass die beiden das stressige und schnelllebige Berlin für Leipzig verlassen wollten.
„Berlin war für uns nicht die lebenswerte Stadt, um dort eine Familie zu gründen“, erklärt Jule. Doch die Suche
nach der bezahlbaren Leipziger Traumwohnung gestaltete sich schwierig – bis sie auf einer Party zwei frisch
gebackene Hauseigentümerinnen kennenlernten, die ihnen eine Wohnung zum Selbstausbau im Bülowviertel anboten.
Direkt am nächsten Tag standen Jule und Johannes in der zweiten Etage der unsanierten Bülowstraße 19 auf
dreckigem PVC-Boden zwischen heruntergerissenen Tapetenresten. „Uns war klar, hier ist tierisch viel zu tun, aber
die Wohnung hat unglaublich viel Potential“, erzählt Jule. Das war im Sommer 2012.
Heute kommt Jule von ihrem Spaziergang durch den Stünzer Park zurück und schließt die Tür zu ihrer fertig
sanierten Wohnung auf. An die Ausbauzeit kann sie mittlerweile gelassen zurückdenken, obwohl die eineinhalb Jahre
eine unglaublich stressige Phase waren. An den Wochenenden pendelten Jule und Johannes von Berlin nach Leipzig.
Was sie konnten, haben sie dann selber gemacht: Wände rausreißen, Dielenboden abschleifen, Kabelkanäle ziehen.
Mit den Hauseigentümerinnen gibt es einen Deal, wie er für eine Ausbauwohnung üblich ist. Vor der Sanierung
werden pauschal die Kosten berechnet, die nötig sind, die Wohnung auf einem Mindeststandard herzurichten. Diesen
Betrag können Jule und Johannes in den nächsten neun Jahren abwohnen. Doch die beiden haben mehr investiert als
die Pauschale. „Das ist ein Handel, den viele nicht nachvollziehen können“, erklärt Jule. „Wir wollten uns hier
einfach wohlfühlen und haben uns eine Wohnung hergerichtet, die voll und ganz unseren Vorstellungen entspricht.“
Jule steht in ihrer großzügigen Küche am Fenster, das zum Hinterhof hinausgeht. Dort unten steht eine
bepflanzte alte Badewanne, eine Feuerschale und ein paar weiße Plastikstühle drumherum. Wenige Meter dahinter,
die Böschung hinab, führen Bahnschienen am Grundstück vorbei. Alle paar Minuten fährt ein Zug entlang. Jule
stört das wenig. „Sicher hört man die Züge. Aber auf mich hat das eher eine beruhigende Wirkung.“ Sie geht zum
Küchentisch und hebt eine postkartengroße Einladung auf. „MusikTrassenFest: Lieder am Gleis“ steht darauf
geschrieben. In ein paar Wochen wollen Jule und Johannes gemeinsam mit Freunden und Nachbarn aus dem
Bülowviertel ein gemütliches Fest im Hinterhof feiern.
Der Leipziger Osten: Eine rasante Entwicklung
Kein Auwald, kein Kanal, keine nahegelegenen Seen. Der Leipziger Osten hat im Vergleich zu anderen Stadtteilen in
dieser Hinsicht nicht viel zu bieten. Sicherlich gibt es auch hier Kleingartenanlagen und Parks. Aber nichts,
wofür der Leipziger extra herkommen würde. Schon immer galten die Wohnquartiere nördlich und südlich der
Eisenbahnstraße als wenig attraktiv. Nach der Wende hatten die Ortsteile im Osten, wie das gesamte Stadtgebiet,
unter dem massiven Wegzug der Bewohner zu leiden. Doch Neustadt-Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Anger-Crottendorf,
Sellerhausen-Stünz, und Reudnitz-Thonberg erholten sich weniger schnell als die Ortsteile im Süden, Norden und
zuletzt im Westen.
Obwohl die Stadt und auch zahlreiche private Initiativen versuchten, die Gegend wieder zu beleben, bleibt der
Osten das Sorgenkind in der Stadtentwicklung. Der Gebäude- und Wohnungsleerstand ist nirgendwo in Leipzig so
hoch wie hier. Noch 2011 stand jede fünfte Wohnung im Osten leer. Viele Bewohner haben ein vergleichsweise
niedriges Einkommen zur Verfügung. Der Anteil an Arbeitslosen ist 2013 beispielsweise in Volkmarsdorf
(17,4 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie in der gesamten Stadt (7,9 Prozent). All das trägt zum negativen
Image des Ostens bei, der als Migranten- und Hartz-IV-Hochburg unter vielen Leipzigern verrufen ist. Nur
diejenigen, die von auswärts nach Leipzig kommen, scheint das nicht abzuschrecken. Die günstigen Mieten locken
vor allem junge Berufseinsteiger und Studenten her.
Seit 2011 aber nimmt der Osten eine bemerkenswerte Entwicklung. „Momentan überschlägt es sich hier beinahe. Es
passiert alles gleichzeitig“, erklärt Marlen Försterling und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. Sie arbeitet
beim Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung der Stadt Leipzig und beobachtet seit fast drei Jahren, wie
der Osten Stück für Stück aufgekauft wird. Quasi aus dem Nichts habe sich dieser Trend ergeben. Es sei eine ganz
andere Dynamik als im Westen, wo zuerst die Kreativen kamen und dann allmählich die Investoren aufmerksam wurden.
„Im Osten hat man gerade erst die Pioniere, aber gleichzeitig sind schon die Investoren da, die die Häuser
aufkaufen“, sagt sie.
Marlen Försterling ist beim Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung speziell für den Leipziger Osten
zuständig
Vor vier Jahren konnte man noch ein ganzes Mehrfamilienhaus in Volkmarsdorf für 20.000 Euro kaufen. Mittlerweile
ist man bei 120.000 Euro. Und die Häuser werden teilweise immer wieder weiterverkauft. Marlen Försterling ist
sich sicher, das sind Spekulationsobjekte. „Bei der Arbeit habe ich ja Einblick in die Immobilienverkäufe und
manche Objekte gehen jeden Monat wieder über den Tisch.“ Käufer, die bereitwillig die immer höheren Preise
bezahlen, scheint es genug zu geben. Der Hype um Leipzig hat in Deutschland die Runde gemacht. Viele
Immobilienfirmen aber auch Privatleute sehen die Chance, in Leipzig lukrative Anlageobjekte zu bekommen. Aus
dem Wohnungsmarktbericht der Stadt Leipzig geht hervor, dass 2012 nur
sechs Prozent der sanierten Altbauwohnungen von Leipzigern selbst gekauft wurden, die restlichen Käufer kommen
aus dem gesamten Bundesgebiet. Und wenn die Renditeerwartungen der Käufer erfüllt werden sollen, müssen
irgendwann entsprechend die Mieten steigen.
Von Seiten der Stadt Leipzig gebe es Versuche einen kompletten Ausverkauf zu verhindern, berichtet Marlen
Försterling. „Wir brauchen junge und aktive Leute, die in ihrem Viertel etwas aufbauen und sich engagieren
wollen. Denen muss man es leichter machen, Häuser zu kaufen.“ Försterling versucht deshalb die Eigentümer solcher
Häuser ausfindig zu machen, die noch nicht verkauft und saniert sind. Mit ihnen bespricht sie alternative
Verkaufs- und Nutzungsmöglichkeiten, wie etwa das Konzept von Ausbauhäusern. Drei Projekte dieser Art
sind daraus bereits entstanden. Ähnlich lief es auch im Falle des Bülowviertels. 2008 war das Quartier
heruntergekommen, hatte aber durchaus Potential. Es mussten sich nur genügend Eigentümer finden, die in dem
eigentlich hübschen Viertel etwas voranbringen wollen.
Alternative Wohn- und Nutzungsmöglichkeiten
Wächterhäuser:
Eigentümer von lange leerstehenden Objekten, die aktuell keine Möglichkeit haben die Häuser zu renovieren,
übergeben diese an sogenannte „Wächter“. Für wenig Geld können die Nutzer sich die Räumlichkeiten einrichten,
dort wohnen und arbeiten. Im Gegenzug sorgen sie dafür, dass weitere Schäden am Haus – etwa durch Vandalismus
oder Witterung – eingegrenzt werden.
Ausbauhäuser:
In einem Ausbauhaus stellen die Eigentümer ihren Mietern Wohnfläche zum Selbstausbau zur Verfügung. Die Kosten,
die die Mieter für Materialien und Arbeitsleistung einbringen, können sie abwohnen. Das heißt, sie können für
einen festgelegten Zeitraum zu sehr günstigen und stabilen Mietkonditionen in der Wohnung leben. Der Eigentümer
selbst kann auf diese Weise das Haus ohne großen Investitionsaufwand instand setzen.
Hausprojekte:
Bei Hausprojekten haben sich meist mehrere Personen zusammengeschlossen und ein renovierungsbedürftiges Haus
gekauft. In Eigenregie richten sie das Haus mit der Absicht her, dort selbst langfristig nach eigenen
Vorstellungen wohnen zu können.
Weitere Infos bei Haushalten e.V.
Das Bülowviertel: Eine einmalige Eigentümerinitiative
Asena Kahraman tritt aus dem großen Hauseingangstor auf die Eisenbahnstraße. Von ihrem Büro- und Wohnhaus an der
angeblich
„schlimmsten Straße Deutschlands“ läuft sie die 300 Meter bis ins Bülowviertel, wo sie schon seit Jahren zwei
weitere Immobilien besitzt. Der Lärm der ratternden Straßenbahn verschwindet mit jedem Schritt mehr hinter den
Fassaden an der Torgauer Straße. Und auch das Erscheinungsbild wandelt sich. Die Gebäude im Quartier ragen nur
dreigeschossig in die Höhe. Sonnenblumen, Rosen und Klatschmohn blühen in den schmalen Vorgartenstreifen zwischen
Bürgersteig und Hauswänden. „Ach, hallo!“ Asena Kahraman lächelt einem Mann auf dem Fahrrad zu. Hier im
Bülowviertel kennt sie jedes Haus und fast jeden Eigentümer persönlich.
Im Juni 2009 hat Kahraman gemeinsam mit anderen Hausbesitzern aus dem Quartier den
Bülowviertelverein gegründet. Viele der 86 Häuser standen damals leer und
verwahrlosten. Wer von den Mietern die Möglichkeit hatte, zog weg. Die Atmosphäre war düster und das sollte sich
ändern. Gefördert durch das Programm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ vom Bund und mit Unterstützung der
Stadt Leipzig wollte der Verein das Bülowviertel nachhaltig aufwerten. Es fing mit einfachen Maßnahmen an. „Wir
haben selber angepackt, Schutt weggeräumt, Hecken geschnitten und die Vorgärten bepflanzt“, erinnert sich
Kahraman. Dann folgten gezielte Marketingaktionen. Rundgänge durch das Viertel wurden organisiert. Sie
veranstalteten einen Vorgartenwettbewerb und luden zum Probewohnen ein. Interessierte konnten für drei Tage eine
Wohnung im Viertel beziehen, um ein Gefühl für das Leben hier zu bekommen.
„All diese Aktionen haben wir gemacht, um Käufer für die Häuser zu finden, die langfristig das Viertel
voranbringen und am besten auch selbst hier wohnen wollen“, erklärt Kahraman. Die neuen Eigentümer sanieren nicht
luxuriös und vermieten dementsprechend günstig weiter. Oder es werden alternative Eigentums- und
Wohnvereinbarungen getroffen. Die Bülowstraße 19 ist nicht das einzige Ausbauhaus im Viertel. Auch 100 Meter
weiter an der Fassade des Backsteinhauses mit dem hübschen Fachwerkgiebel in der Gretschelstraße baumelt ein
gelbes Banner mit der Aufschrift „Ausbauhaus“. Doch nicht in allen Fällen ist der Plan des Bülowviertelvereins
aufgegangen. Asena Kahraman blickt die Straße hinunter. „Dort drüben gibt es drei oder vier Spekulationsobjekte,
die werden nicht so schnell bewohnbar gemacht.“ Sie deutet auf ein anderes quietschgelb gestrichenes Haus mit
Videokamera über dem Eingang. „Und hier wurde schnellstmöglich und eben nicht nach dem typischen Bild im
Bülowviertel saniert. Den Eigentümer kenne ich nicht persönlich. Ich weiß aber, dass er nicht vermietet, sondern
Eigentumswohnungen zum Kauf anbietet.“
Diejenigen, die sich engagieren, haben das Bülowviertel in den letzten Jahren zu einer
gefragten Wohngegend gemacht. Fast alle Wohnungen sind vermietet. Viele junge Familien hat es hergezogen, die
den dörflichen und nachbarschaftlichen Charakter des Quartiers schätzen. Das haben auch die Investoren
mitbekommen. Der große Ausverkauf im Leipziger Osten macht vor dem Bülowviertel nicht halt. Die Eigentümer, die
selbst im Viertel wohnen, würden allerdings nicht verkaufen. Da ist sich Kahraman sicher. „Die haben doch
teilweise ihr Herzblut in den Ausbau der Häuser und Wohnungen gesteckt. Sie verbindet etwas mit dem
Bülowviertel.“ Auch Asena Kahraman hat schon Kaufanfragen für ihre zwei Immobilien im Viertel bekommen. „Da
müsste man mir schon eine Million oder mehr bieten“, lacht sie. „Dafür genieße ich zu sehr die gemeinschaftliche
Atmosphäre hier.“
Incumbent Upgrading
Die Entwicklung des Bülowviertels kann mit dem wissenschaftlichen Begriff des „incumbent upgrading“
beschrieben werden. Anders als bei der Gentrifizierung folgt beim incumbent upgrading auf die Aufwertung des
Viertels weniger Verdrängung. Die Initiative zur Verbesserung der Wohnbedingungen geht meist von den
Hauseigentümern und Bewohnern selbst aus. Im Vordergrund stehen allerdings keine kapitalistischen Interessen,
sondern der Wunsch der Eigentümer nach einem langfristigen Erhalt der Häuser und der Umgebung. Dabei wird
dieses Interesse nicht gegen, sondern in Zusammenarbeit mit den Bewohnern durchgesetzt.
(Clay, Phillip L. (1979): Neighborhood Renewal: Middle-Class Resettlement and Incumbent Upgrading in American
Neighborhoods. Lexington: Lexington Books.)
Jule steht hinter der provisorisch aufgebauten Theke im Hinterhof und schenkt einen Weißwein ein. Mit
einem breiten Lächeln begrüßt sie jeden Gast, der es trotz Gewitters zu ihrem Musiktrassenfest geschafft hat.
Auch direkte Nachbarn und Anwohner aus dem restlichen Bülowviertel schauen vorbei. Als der Regen nachlässt,
sammelt sich eine gemütliche Runde um das Lagerfeuer. Zwischen Bier und Wein fällt das Gespräch irgendwann auf
Jules und Johannes Ausbauprojekt und das Wohnen im Viertel. Der Tenor unter den Gästen: Wirklich schön haben sie
es hier. Es hat so einen besonderen Charme, das Bülowviertel.